III

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Als er weiterging, begegnete ihm lange Zeit kein Mensch draußen. Die meisten Straßen waren nicht zu begehen. Schutt und Dreck türmten sich bis zu den ersten Stockwerken der leer- gebrannten Fassaden, und aus manchen Straßenzügen kam noch Qualm in großen dichten schweren Schwaden.

Um vom Gürtel zur Rubensstraße zu kommen, brauchte er fast eine Stunde, für einen Weg, den er früher in zehn Minuten hatte gehen können. Zwischen Mauerresten ragten Ofenrohre heraus, Qualm verteilte sich schleichend, und manchmal begegnete er einem schlechtgekleideten Mann oder einer Frau, die ein Kopf- tuch flüchtig umgebunden hatte.

In der Rubensstraße selbst schien kein Haus mehr zu stehen. Die große Badeanstalt am Eingang der Straße war zusammenge- sunken, zwischen den Trümmern war hier und da eine von den glänzenden grünen Kacheln des Schwimmbassins zu sehen. Hier, wo die großen Straßen sich früher vereint hatten, sah er auch mehr Menschen; sie alle gingen langsam, waren schmutzig und übellaunig…

Hinter einer Kulisse leergebrannter Hausfassaden hörte er schwere Fahrzeuge brummen, die in Richtung Rhein zu fahren schienen…

Er kletterte vorsichtig über die Trümmer in die Rubensstraße hinein. Irgendwo schrie ein Säugling hinter Fenstern, die mit schmutzigen Brettern verschalt waren, und eine Frauenstimme sprach sehr leise und klagend.

Vom Hause Nummer 8 stand noch der Eingang, und ein paar Zimmer unten schienen heil zu sein, der Eingang war breit und tief, die Giebelmauer war eingedrückt, und die Deckenbalken ragten stumpf in den grauen Himmel. Als er eintreten wollte, kam ihm eine alte Frau entgegen mit einem grünen Kopftuch: ihr Gesicht war gelb und schlaff, strähniges schwarzes Haar hing ihr

in die Stirn. Sie hielt eine Kohlenschaufel mit Hundedreck in der

Hand: Sie ging ein paar Schritte bis zum nächsten Trümmerhau-

fen, schleuderte den Dreck mit einer müden Bewegung ab und kam zurück.

Er sagte: »Gompertz, bin ich hier richtig bei Gompertz?« Sie nickte nur.

»Frau Gompertz«, fragte er weiter in ihr teilnahmsloses Ge-

sicht hinein, »ist Frau Gompertz da?«

Wieder nickte sie; für einen Augenblick fielen die dicken Lider über ihre entzündeten kleinen Augen und ihr Gesicht schien eine Sekunde lang endgültig tot zu sein…

»Kommen Sie«, sagte sie leise.

Er ging hinter ihr her in den Flur. Es war dunkel, und sie blieb so plötzlich vor ihm stehen, daß er ganz nah ihr schlaffes Ge- sicht sah, sie roch nach Küche, nach Spüldunst, die Pupillen

bewegten sich mit einer erschreckenden Langsamkeit, als müß-

ten sie irgendwo mit großer Mühe gedreht werden. Sie blickte ihn an, ihre Stimme war leise und heiser.

»Damit Sie es wissen«, sagte sie ruhig, »sie ist krank…«

»Ich weiß«, sagte er.

Sie ließ plötzlich die Unterlippe hängen, wandte sich wieder ab und ging ihm voraus, und jedesmal, wenn sie sich umwandte, sah er die dicke gelbliche Unterlippe herunterhängen, die ihrem Gesicht den Ausdruck eines ekelhaften Grinsens gab.

Sie kamen in eine sehr geräumige Diele, und er sah durch ein bläuliches Oberlicht in die leere schwarzgebrannte Hülle des Hauses hinein. Hier unten standen überall staubbedeckte Möbel, Kleider lagen lose über Kisten und Koffern und Tischen, und in einer Ecke stand ein offenes Klavier wie ein Ungeheuer mit tausend falschen Zähnen. Die Frau legte die Kohlenschaufel auf einen Tisch, sah ihn noch einmal an, horchte erst, indem sie das Ohr an ein Schlüsselloch legte, und rief dann laut: »Frau Gom- pertz?«

Sofort antwortete eine sehr kalte Stimme: »Ja?«

»Ein Herr möchte Sie sprechen.«

»Einen Augenblick.«

Sie blickte ihn wieder an. »Sie liegt immer zu Bett«, flüsterte

sie.

Die Stimme hinter der Tür rief jetzt: »Es ist gut«, die Alte öff- nete ihm die Tür, und er trat ein.

Das Zimmer war groß und hoch und sah sehr sauber aus. Der Parkettboden war sogar gespänt, die gelben Bretter waren glatt

und glänzend. Über dem großen schwarzen Bett in der Ecke sah

er eine Marienstatue auf hölzernem Sockel mit einem kleinen rötlichen Licht davor. Sonst stand nur ein Stuhl und ein Nacht- tisch im Zimmer, und er sah, daß die schadhafte Decke mit dik- ken weißen Papierstreifen vernagelt war. An den Wänden hingen dunkle Ölgemälde, von denen er ahnte, daß sie echt waren und kostbar. Er blieb an der Tür stehen, das alles erschien ihm zu feierlich – zu still auch und zu schön…

Die klare Stimme sagte leise: »Kommen Sie bitte und setzen Sie sich.«

Die Frau hatte eine dunkle hochgeschlossene Jacke an und ihr Gesicht erschien blasser, je näher er kam; das Haar war sehr hell,

fast farblos, es schien lose und dünn zu sein und erinnerte ihn an

die Perücken blasser Puppen. Er ging langsam näher. Sie sagte noch einmal: »Setzen Sie sich doch hier.«

Auf der Marmorplatte des Nachttischs stand ein kleines schwarzes Kruzifix, es war grob in einem Holzklotz eingelas-

sen…

Er setzte sich. Er konnte nichts sagen, er öffnete plötzlich ha- stig seinen Mantel und deutete auf die Feldbluse, die er darunter trug, auf die Feldwebellitze, die Orden auf der Brust und die Sterne auf der Schulter. Alles war noch neu, die Litze blinkte noch und die Knöpfe waren unversehrt, ohne den geringsten Kratzer.

Sie nickte nur, ihr Gesicht blieb ruhig, matt eingebettet in das helle Haar.

»Es ist gut«, sagte sie, »ich wußte es, aber wie… Sie müssen mir sagen, wie…«

Er war aufgestanden, hatte den Mantel ganz ausgezogen, den Rock abgestreift, nahm jetzt den Zettel aus der Tasche und gab

ihn ihr mit dem Rock. Auch jetzt veränderte sich ihr Gesicht

nicht, er blickte von ihr weg und sah in das große mit Tüchern

verhangene Fenster. Die Sonne war durchgekommen, sie stand über der Fensterbank, das Tuch färbte sich rot, schien sich voll- zusaugen mit Rot wie mit einer feinen Flüssigkeit, die sich un- merklich verdichtete, jede Faser des Stoffes erfüllte, und er sah jetzt, daß die Bilder an den Wänden wirklich kostbar waren: sie schienen mit Licht gemalt, sie zeigten ruhige Patriziergesichter über samtenen Kragen.

Er wandte sich langsam wieder der Frau zu und war erstaunt: sie fühlte vorsichtig die Nähte ab an den unteren Rändern des Schoßes, lächelte, nahm ein Messer aus der Nachttischschublade

und fing an, den Saum aufzutrennen.

Ihre Hände waren so ruhig wie das Gesicht, sie schnitt ein paar Stiche los, riß dann mit einem sicheren Ruck das ganze Futter los, vorsichtig fuhr ihre linke Hand in die dunkle Höhlung und brachte einen Bogen Papier zutage, der zusammengefaltet war. Sie reichte ihm das Papier und sagte leise: »Lesen Sie…«

Er faltete das Blatt auseinander und las:

O.U., den 6. Mai 1945. Ich, der Unterzeichnete Feldwebel Wil- li Gompertz, vermache mein gesamtes bewegliches und unbe- wegliches Eigentum meiner Frau Elisabeth Gompertz geb. Kreutz. Darunter stand sehr deutlich zu lesen: Willi Gompertz, Feldwebel; dann kam eine unleserliche Unterschrift, ein runder Stempel mit einer Feldpostnummer und das deutlich geschriebe- ne Wort Oberstleutnant…

Er gab ihr das Papier stumm zurück.

»Was ist«, fragte sie, »sind Sie böse?«

Er sagte nichts und blickte wieder zum Fenster hin, die glü- hende Flüssigkeit hatte sich verstärkt, schien üppiger geworden zu sein, dicker und heftiger…

»Was ist denn?« fragte sie wieder. Sie war sehr ernst und ru- hig, und er sagte in ihr Gesicht hinein: »Er hat mir meinen Tod gestohlen, ihr Mann hat mir meinen Tod gestohlen. Ich glaube, ich weiß, was los ist. Diesen schnellen und sauberen Tod, den durfte ich nicht behalten, den hat er für sich ausersehen, der mußte mir geklaut werden. Außerdem war es sogar ein Helden-

tod, ein richtiger Heldentod, und der stand mir nicht zu, ich

weiß. Ich sollte leben, ich wollte sogar leben – – und er wollte mir das Leben schenken, aber ich begreife jetzt, daß man jemand das Leben schenken kann, indem man ihm den Tod stiehlt.«

Sie hatte sich zurückgelehnt, und gegen die dunkle Tönung des Bettes sah ihr Gesicht noch bleicher aus.

Er fuhr fort: »Ich sollte erschossen werden wegen Fahnen- flucht. Sie hatten mich geschnappt. Die Amerikaner waren schon

sehr nah. Ihr Mann war Schreiber beim Feldgericht, nicht

wahr?« – Sie nickte. – »Es sollte alles sehr schnell gehen, die Amerikaner waren so nah, man hörte schon den Kampflärm der Infanterie. Ihr Mann kam abends in die Scheune zu mir, in der ich auf meine Erschießung wartete. Er kam mit seiner Taschen- lampe, leuchtete das Heu ab, er leuchtete mir ins Gesicht und sagte: ›Steh auf.‹ Ich stand auf. Ich sah sein Gesicht nicht, es war ganz im Dunkeln. Er fragte: ›Du willst nicht sterben…‹ ›Nein‹, sagte ich… ›Geh stiften‹, sagte er. ›Schön‹, sagte ich und wollte an ihm vorbeigehen. ›Moment‹, sagte er, ›zieh meinen Rock an.‹ Ich sah sein Gesicht immer noch nicht. Er legte die Lampe ins Heu, und ihr Schein traf oben die staubige Scheunendecke, und in dem zurückfallenden Schein sah ich sein Gesicht: es war gleichgültig. Er zog seinen Rock aus, nahm mir meinen ab und sagte: ›Geh.‹ Ich ging. Ich versteckte mich im Hof gegenüber, und dann hörte ich, daß der Infanterielärm plötzlich sehr nahe kam, sah, daß sie anfingen, ihre Wagen zu beladen, sehr schnell und hastig, und eine Stimme, die Stimme des Richters schrie immer wieder: ›Gompertz, wo ist Gompertz?‹ – und die Stimme schrie vergebens, und kurz bevor sie abfuhren, holten sie ihn aus der Scheune und erschossen ihn. Man hörte es kaum. Granatwer- fer schlugen schon im Dorf ein, und das Knallen der Panzerge- schosse platzte über den Dächern…« – er schwieg einen Augen- blick – »Ein paar Minuten nur war ich allein in dem Dorf, allein mit dem Misthaufen und dem Toten, der keine dreißig Schritt von mir entfernt im Dämmer vor der Scheune lag – er hat ein gutes Geschäft gemacht« – er schwieg wieder, sah auf die bra- ven, blassen Gesichter über den Samtkragen, und fügte leise

hinzu, indem er aufstand: »in dieser Familie werden seit vielen

hundert Jahren gute Geschäfte gemacht, ich weiß…« Er schwieg…

»Mein Gott«, sagte die Frau leise, und es schien ihm zum er- sten Male, als sei sie nicht gleichgültig. »Mein Gott, aber er

fragte Sie doch, ob Sie leben wollten…«

»Jaja«, sagte er, »ich weiß, er fragte mich. Sie fragen immer, sie sind nie im Unrecht…«

Sie sagte ruhig: »Es ist nichts zu ändern, nun müssen Sie le- ben, und eines Tages werden Sie froh sein, Gott wird Ihnen helfen. Ich danke Ihnen für den Rock – fanden Sie den Zettel

schnell?«

»Ich fand ihn, als ich nach Zigaretten suchte.« Sie lächelte. »Waren noch Zigaretten drin?«

»Ja«, sagte er, »zwei…«, und er griff plötzlich in die Tasche des Mantels, ließ das Etui aufschnappen, nahm zwei Zigaretten und warf sie ihr aufs Bett. »Da«, sagte er. Sie blickte ihn er-

schreckt an. »Sonst werden Sie noch sagen, ich sei gut bezahlt

worden für den Botengang, der mich meinen Tod kostete.«

Er wandte sich um und ging, und er hörte, daß sie weinte, als sie ihm nachrief: »Aber Sie müssen doch einen Rock haben – wie heißen Sie, um Gottes willen – wie heißen Sie denn…«

Er blieb an der Tür stehen und sah sie noch einmal an: sie weinte wirklich: »Um Gottes willen, lassen Sie mich doch etwas für Sie tun, wie heißen Sie denn…«

»Ich weiß nicht«, sägte er ruhig, »wirklich, ich weiß nicht,

welchen Namen ich im Augenblick habe, wirklich, ich weiß nicht; zuletzt hieß ich Hungretz – wie ich jetzt heiße, weiß ich nicht, der Zettel ist irgendwo in meiner Tasche… auf Wiederse- hen…«

Er blickte sich nicht mehr um…


In der Diele begegnete ihm die Alte wieder. Sie hatte die Schürze voll Kartoffelschalen. »Ist er tot?« fragte sie leise.

Er nickte.

»Ich dachte es mir«, sagte sie ruhig, »fiel er zuletzt noch?«

»Er wurde erschossen…«

»Mein Gott«, rief sie, »wenn das der alte Herr erfährt – von wem denn, von den Deutschen?«

»Von den Deutschen…«

»Von den Deutschen, um Gottes willen«, sie ging kopfschüt- telnd voran – wieder durch die Diele und den langen dunklen Flur.

»Mein Gott«, sagte sie wieder, als sie draußen standen, »war- um denn von den Deutschen, sagte er etwas wegen dem Sieg oder so?«

»Nein, es war ein Irrtum, er wurde irrtümlich erschössen.«

Sie ging stumm bis zum nächsten Schuttberg und warf die Kartoffelschalen weg, und als er sich einmal umwandte, stand sie immer noch und blickte ihm nach.